Samstag, 6. November 2010

Hunger. Stiller.









Papa, sag mal, wie war das mit dieser Pferdescheiße?

(er schweigt)

Mit diesen Pferdeäpfeln. Es war Nacht, ihr hattet Hunger…

(er schweigt)

Schläfst du?

(er schweigt, lächelt, seine Augen bleiben geschlossen)

Schlaf ruhig weiter, ich will dich nicht stören. Bist wahrscheinlich sehr müde geworden, nachdem Mama dich gewaschen hat. Tausendmal hin und her drehen. Muss anstrengend sein…

(mit undeutlicher Stimme, sehr leise) Hat geschmeckt!

Was?

(Etwas deutlicher, aber leise) Hat geschmeckt, die Pferdescheiße!

Wirklich? Glaub ich nicht! Sag mal wirklich, wie war das?

(er lächelt schon wieder)

(ich warte, berühre seinen Arm)

Hast DU so was schon mal gegessen?

Nein. Hat sich bis jetzt nicht ergeben.

Gott sei Dank! Wünsch ich dir auch nicht. (Pause) Wir hatten Hunger. Hunger ist stärker als Krankheit. Der Krieg hat uns alle kaputt gemacht. Aber da war dieses Feld. Tagsüber haben die da mit Pferden gearbeitet. Es war Nacht. Wir dachten, wir würden Kartoffeln finden. Am Ende ist es egal, was du in den Mund steckst. Du willst einfach etwas essen… (er lächelt nicht mehr)

Papa… (ich streichle mit der rechten Hand sein Gesicht, fahre mit den Fingern durch sein immer noch kräftiges weißes Haar)

(er lächelt)

Du lächelst viel. Das gefällt mir.

Tust du das auch?

Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht so viel. (Pause) Sag mal, Papa, wie war das mit diesem Agronom in Sibirien. Dieser Mann, den du in seinem Auto überall hinbringen musstest. Der hat sich doch mal so richtig über dich geärgert, weil du immer beim Fahren gelächelt hast. Warum eigentlich? Nur, weil du gelächelt hast?

Der dachte, ich bin verrückt geworden.

Quatsch! Erzähl mal, ehrlich.

(er lächelt)

Da war was. Aber was? Vielleicht hast du mir das schon einmal erzählt, ich hab’s vergessen.

Da war nicht viel. Aber für mich war das sehr viel. Und für ihn war das wahrscheinlich zu viel…

Du hast bestimmt die ganze Zeit gepfiffen im Auto, diese Lieder, die wir immer im Gottesdienst singen, und dann ist er irgendwann einfach ausgeflippt und hat dir gesagt: Hör auf, du blöder Baptist!

Nein, aber so ähnlich.

Du hast gesungen?

Nein, in seiner Anwesenheit nicht. Aber so ähnlich. Ich habe jeden Morgen auf dem Weg von dieser großen Garage, von wo ich das Auto holte, bis zu meinem Agronom – gebetet, einfach so laut und deutlich im Auto zu Gott gesprochen. Ich war ja noch allein im Auto. Ich habe Gott jeden Morgen gesagt, wofür ich ihm an diesem Tag dankbar war. Mir ist nicht jedes Mal sehr viel eingefallen, aber ein paar Sachen sind mir doch immer eingefallen. Und manchmal sogar solche Dinge, die mich selbst überraschten. An einem Morgen, eigentlich war ich ziemlich krank an diesem Tag, da hatte ich mich bei Gott für genau diesen Mann bedankt, den ich da jeden Tag im Auto hatte und aushalten musste.

(Papa redet langsam, manchmal zu undeutlich, sein Parkinson hat ihn kaputt gemacht)

Eigentlich war er einigermaßen freundlich zu mir. Dafür habe ich Gott ein herzliches Dankeschön ausgesprochen. Und ich glaube, an diesem Tag, es war ein dunkler Novembertag, da habe ich etwas mehr gelächelt als sonst. Besonders, wenn ich mit ihm sprach. Er redete manchmal sehr viel wegen seiner Arbeit und diesen Menschen, die seiner Meinung nach alles falsch machten und solche Sachen. Dabei hörte ich ihm einfach nur zu, mehr wollte er ja von mir auch nicht. Aber an diesem Vormittag ging in meinem Kopf mein Gebet weiter und während der Mann sprach, dankte ich Gott auch noch dafür, dass er gesund war, dass seine Kinder ganz in Ordnung waren, dass wir bis heute noch keinen Unfall hatten und so was alles. (Pause) Ich war sehr zufrieden. Und ich war sehr überrascht, als er mich plötzlich so verständnislos ansah und auf einmal losbrüllte, wie ein Irrer. (Pause) Na ja, es gibt Schlimmeres. Er hat mich ja nicht geschlagen. Wir sind einfach weiter gefahren.


(ich schweige)

(er schweigt auch)

Was hast du ihm dann gesagt?

Ich weiß es nicht mehr. Am nächsten Tag, und überhaupt jeden nächsten Tag, so weit ich mich an diesen Agronom erinnern kann, war er sehr freundlich zu mir. Sogar viel höflicher und respektvoller als zu seinem Chef, vor dem er eigentlich Angst hatte.

Komisch, wie das Leben so läuft…

Ja, komisch. (Pause. Tränen in seinen Augen)
Schmeckt nicht immer alles.


* * *

Papa ist 1925 in Margenau (Ukraine) geboren und heute vor drei Jahren in Siegburg gestorben... Siehe auch Noda Voda oder Emma Isa

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke Peter, für diesen Einblick! Man hat beim Lesen den Eindruck dabei zu sein und hat irgendwie das Bedürfnis, sich dafür zu entschuldigen, dass man diesen intimen Moment zwischen Vater und Sohn mitbekommen hat. Wunderbare...bewegende Erinnerungen...wie kostbar!