Freitag, 7. Dezember 2007

Und täglich grüßt die Trichterbrust


Den folgenden Text habe ich 1999 geschrieben und heute wieder rausgekramt. Schließlich werde ich in einigen Tagen 40 - und der Zahn der Zeit nagt. Auch an meinem Körper...

* * *

Eine Trichterbrust ist ein in der Mitte trichterförmig nach innen verlaufender Brustkorb. Schon als ich sieben Jahre alt war, lernte ich diese Definition am eigenen Körper kennen. Ich sah von oben herab auf meine Brust und stellte verwundert fest: Dieses Loch wird langsam aber sicher größer!

Eigentlich war und ist meine Trichterbrust kein echtes Problem für mich, zumal sie auch nicht allzu auffällig ist (...das bilde ich mir jedenfalls ein...) und meine Gesundheit in keiner Weise gefährdet. Aber sie ist für mich ein fleischgewordenes Symbol einer Lebensmaxime geworden, die es wirklich in sich hat: Mach aus der Not eine Tugend! Entdecke die unerwarteten Chancen, die sich in einer Katastrophe ergeben! Nutze, was du hast! Ich möchte das mit zwei Beispielen aus meiner Schulzeit erklären. Es geht in beiden Fällen um mich und meine Trichterbrust - und auch ein bisschen um Integration.

Für einen russlanddeutschen Aussiedler, der so wie ich mit sieben Jahren nach Deutschland und damit in die erste Klasse kommt, sollte es doch kaum Integrations- und Minderwertigkeitsprobleme geben, denke ich im Nachhinein. Aber auf dieser Klassenfahrt - während meines siebten oder achten Schuljahres am Anno-Gymnasium in Siegburg - spürte ich eine fast vergessene und kaum überbrückbare Kluft zwischen mir und den anderen in meiner Klasse. Einerseits war ich froh, dass mich meine sehr christlich geprägten, mennonitisch-baptistischen Eltern überhaupt mitfahren ließen. Ich weiß bis heute nicht, ob meinem Klassenlehrer klar war, warum meine Eltern mich zunächst nicht mitfahren lassen wollten. Er muss wohl auf finanzielle Probleme getippt haben und erwirkte einen fast 100-prozentigen Kostenzuschuss für mich. Das wird meinen Eltern wiederum die Entscheidung etwas erleichtert haben...

Als wir dann am ersten Abend auf unseren Zimmern waren, war ich von ungefähr folgenden Fragen ziemlich beunruhigt: Habe ich den richtigen Schlafanzug? Was mache ich, wenn irgendwas mit den Mädchen läuft, wovon die coolen Jungs die ganze Zeit sprachen. Was sie sich vorstellten, war mir nicht ganz klar und verunsicherte mich um so mehr. Natürlich mochte ich die eine oder andere aus der Klasse auch sehr gern, aber als Christ sollte und wollte ich mich hier doch irgendwie bewähren. Vergiss nicht, wes Geistes Kind du bist, Peeta, pflegte meine Mutter zu sagen, und schickte mir diese Worte täglich mit auf den Weg, wenn ich zur Schule ging. Martin Luther und meine Mutter haben ungefähr die gleiche Art zu formulieren.

Am nächsten Morgen beunruhigte mich gleich ein weiteres Problem: Was werden die denken, wenn ich morgens meine Stille Zeit mache? Also wenn ich in der Bibel lese und anschließend zum Beten die Augen schließe... Ich tat dies und siehe da, niemand sagte etwas Böses. Um so schlimmer. Jetzt bin ich ein Außenseiter und alle haben es akzeptiert. Aber ein paar Stunden später, beim Schwimmen, fiel mir eine andere Interpretation für meinen sozialen Status ein. Da mal wieder alle meine Trichterbrust sahen - ich dachte jedenfalls, dass alle sie ja sehen mussten - und mich auch gleich wieder jemand aus der Klasse darauf ansprach - erst recht, weil ich so tat als wäre es kein Problem für mich - präsentierte ich mich als jemand mit einer phänomenalen Seltenheit. Das gefiel mir! Und es funktionierte, denn ich hörte eher Ausdrücke wie wow als uff...

Die andere Begebenheit ist so ähnlich und fand ungefähr zwei Jahre später im sonnigen Kalifornien statt. Ich war mit einigen Freunden aus der Friends Church an einem Strand. Die Friends Church ist eine aus der Quäker-Bewegung stammende Kirche, deren Veranstaltungen ich während eines einjährigen Aufenthaltes in den USA häufig besuchte. Hier am Huntington Beach genoss ich die heiße Sonne und die erfrischenden Wellen des Pazifischen Ozeans. Mir fiel ein, was am Vormittag jenen Tages in der Schule passiert war und ich erzählte es Julie, dieser sympathischen Amerikanerin, die neben mir im Sand lag und in den Sommernachmittag hineinträumte. Ich berichtete ihr, wir hätten uns im Bio-Unterricht menschliche Skelette angeguckt. Und als es um ungewöhnliche Verformungen ging, meldete ich mich spontan um etwas zu demonstrieren. Die Lehrerin war auch sehr experimentierfreudig und ließ mich nach vorne kommen, ohne zu wissen, was ich vorhatte. Ich zog ohne langes Zögern mein T-Shirt aus, stellte mich seitlich zur Klasse gewandt hin und zog meinen Bauch so tief ein, dass mein Knochengerüst samt Trichterbrust deutlich zu sehen waren. Und wie ich es mir heimlich gewünscht hatte, kam freundliches und erstauntes Lachen von den Leuten im Klassenzimmer. Sie klatschten sogar und jemand machte ein Foto. Julie hörte sich meine kleine Geschichte ruhig an, lächelte und sagte, dass sie es süß fand. Das fand ich wiederum toll! Sie beschloss anschließend, die Gummibärchen, die sie ständig naschte, in meine Trichterbrust zu legen. So sei es praktischer, meinte sie...

Kein Wunder, dass ich nach solchen und ähnlichen Erlebnissen meine Trichterbrust nicht hasse. Im Gegenteil, ich habe gelernt, sie zu mögen. Und ich möchte mir generell immer mehr angewöhnen, aus der Not eine Tugend zu machen. Für mich als Russlanddeutschen bzw. Angehörigen einer russland-mennonitischen Gemeinschaft bedeutet dies vor allem, die scheinbaren und tatsächlichen Defizite, die in den verschiedensten Lebensbereichen auftauchen mögen, nicht als Gründe für Verklemmungen und Frustration zu dulden, sondern sie zu nutzen. Ich möchte das positive Potential des Ungewöhnlichen entdecken und mich gerne damit identifizieren.

Als ich als Aussiedler und Mennonit nach Deutschland kam, war ich anders als die anderen in meiner Klasse. Als ich dann dieses Jahr in den USA verbrachte, war ich schon wieder anders als die anderen in meiner Klasse. Und als ich heute morgen nach dem Duschen in den Spiegel sah, grüßte freundlich meine Trichterbrust: Ich beschloss, dass die Not, wenn sie angeboren ist und ich sie nicht ändern kann, bereits eine Tugend ist.

* * *

Den Text habe ich leicht gekürzt. Der Titel hatte wahrscheinlich etwas mit meiner Begeisterung für den Film Und täglich grüßt das Murmeltier zu tun. Das Foto oben ist von heute und zeigt meine Autoantenne mit einem alten Fetzen Zahnseide. An einem schönen Sommertag hatten irgendwelche Kinder damit eine Straße abgesperrt und ich bin einfach weitergefahren...

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Oh boy you're such a crazy guy ;)

Anonym hat gesagt…

Schöner Text!

Ich bin jetzt 22 und denke kaum noch an meine Trichterbrust. So bin ich eben, das ist mein Körper.


...feeling fine.... :)

Anonym hat gesagt…

Wow..."ich möchte das positive Potenzial des Ungewöhnlichen
entdecken und mich gerne damit identifizieren."
Weise Worte...meinen tiefen Respekt! Voraussetzung ist "nur" die nötige Akzeptanz und das hierfür erforderliche Verständnis - nicht nur von seiner eigenen Seite aus.

Anonym hat gesagt…

danke für den text =)
wollte mir eigenlich meine trichterbrust entfernen mit ner saugglocke habe es mir aber jetzt aber anders überlegt
du hast recht es ist meine körper un ich steh dazu (=

Anonym hat gesagt…

Hy

Ich habe zwar eine nicht sehr ausgeprägte Trichterbrust, genauer habe ich erst durch meinen arzt erfahren das ich so etwas habe, ich hatte vorher einfach nicht besonders darauf geachtet.

Ich finde aber das "aus der not eine tugend machen" ist das beste was ich seit langem gehört habe

danke für diese worte

Anonym hat gesagt…

Bin gerade über den Text gestolpert. Danke dafür! Hat mir gerade sehr geholfen.

Anonym hat gesagt…

Guter Text und ich muss sagen das Du großes Selbstbewusstsein (gehabt) haben musst. Dennoch muss man sich sicher sein, dass der Umkreis das so aufnimmt, wie man es Versucht.

Ich habe damals ähnlich gedacht und auch Versucht, nur ist manches anders zurückgekommen. Das ist für das Selbstwertgefühl natürlich nicht so pralle. Dennoch habe ich nun eine Freundin und Freunde die es wissen, aber nicht umbedingt sehen müssen. Die Trichterbrust ist für mich eher ein Störfaktor.

Nebenbei: Versucht nicht die operatorische Varriante, diese hilft absolut nur selten. Resultat ist meist nach 2 Jahren erneuerter einfall der Brust.